Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bilden eine eng verflochtene Geschichtslandschaft. Dies ist aber keine historische Legitimation für ein Bundesland Mitteldeutschland.
von Steffen Raßloff
Sie tauchen zyklisch in den Medien auf, die Vorschläge für ein Bundesland Mitteldeutschland. Begründet werden sie meist damit, dass sich Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wegen ihrer relativ geringen Größe und Wirtschaftskraft zusammenschließen müssten, um zu sparen und mehr Bedeutung im föderalen Wettstreit zu gewinnen. Diese Vorstöße stehen bewusst oder unbewusst in der Tradition der 1920er-Jahre. Schon damals gab es Pläne, das Territorium Deutschlands einschneidend zu reformieren. Argumentiert wurde dabei gerne auch historisch. Aber gibt es tatsächlich so etwas wie eine mitteldeutsche Geschichte, die einem Großland erinnerungskulturelle Legitimität verleihen könnte?
Wettinische Machtentfaltung
Ein Blick zurück legt fraglos Gemeinsamkeiten offen. Da wäre zunächst das Adelsgeschlecht der Wettiner. Dieses verfügte an der Schwelle zur Neuzeit um 1500 in der Region Mitteldeutschlands über eines der mächtigsten Territorien des Reiches. Als Markgrafen von Meißen hatten sie sich seit 1089 die Herrschaft über Sachsen erkämpft. 1247 erwarben die Wettiner die Landgrafschaft Thüringen und wurden 1423 mit dem Herzogtum Sachsen-Wittenberg in den Kurfürstenstand erhoben. Als einer der angesehensten Monarchen wurde Kurfürst Friedrich der Weise 1519 als Kandidat für die Kaiserkrone ins Spiel gebracht. Sein Bruder Ernst konnte als Erzbischof von Magdeburg und Administrator des Bistums Halberstadt den Einfluss auf fast ganz Mitteldeutschland ausdehnen.
Allerdings mündete diese herrschaftliche Machtentfaltung nicht in einen einheitlichen modernen Staat. Die Wettiner splitterten ihren Besitz immer wieder auf. Die Leipziger Teilung 1485 zwischen den Brüdern Ernst und Albrecht wurde zu einer zentralen Zäsur der mitteldeutschen Geschichte. Sie führte zur Aufspaltung in eine ernestinische und albertinische Linie der Wettiner, deren Spur bis hin zu den Freistaaten Thüringen und Sachsen führt. Jene Teilung ging mit einer Schwächung besonders gegenüber Brandenburg-Preußen einher. Bereits nach dem Tode Ernsts von Wettin 1513 deutete sich dies an, als Albrecht von Hohenzollern Erzbischof von Magdeburg und Bischof von Halberstadt wurde. Nach dem Dreißigjährigen Krieg fielen beide Gebiete endgültig an Brandenburg, das mit der Altmark seit Langem in Mitteldeutschland präsent war.
Kleinteilige Länderstruktur statt Großstaat
Den Albertinern gelang zwar nach dem Sieg im Schmalkaldischen Krieg 1547, der den Ernestinern die Kurwürde und alle nichtthüringischen Gebiete kostete, die Entwicklung des Kurfürstentums und späteren Königreichs Sachsen zu einem Territorialstaat mit der Residenz Dresden. Sachsen geriet jedoch nach dem glanzvollen „Augusteischen Zeitalter“ seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer wieder auf die Verliererseite der Geschichte und büßte zwei Drittel seines Gebietes ein. Die Ernestiner splitterten hingegen ihren Besitz seit dem 16. Jahrhundert in zahlreiche kleine Herzogtümer auf, was zur Ausbildung der sprichwörtlichen Kleinstaatenwelt in Thüringen beitrug. Ihre Fortsetzung fand diese mit den anhaltinischen Duodezfürsten der Askanier, die sich ebenfalls bis 1918 halten konnten.
Gleichzeitig nutzte Preußen sein zunehmendes Übergewicht, um wettinische und andere Ländereien an sich zu reißen. Mehrfach drohte das völlige Aufgehen im ungeliebten Nachbarn. Entsprechende Begehrlichkeiten reichen von der Zeit Friedrichs des Großen über die sächsische Niederlage im Strudel von Napoleons Untergang bis hin zum Preußisch-Österreichischen Krieg 1866. Auch wenn dies letztlich immer wieder verhindert werden konnte, so dehnte sich doch die Militärmacht Preußen insbesondere auf Kosten Sachsens aus: Von 1815 bis 1944/45 gehörte der größte Teil Sachsen-Anhalts und der Regierungsbezirk Erfurt in Thüringen zur preußischen Provinz Sachsen, während auch Teile des heutigen Sachsens Preußen einverleibt waren.
Die gewaltsamen Umbrüche des 20. Jahrhunderts prägten schließlich die kleinteilige mitteldeutsche Länderstruktur aus. Sachsen weist dabei trotz aller territorialen Veränderungen im Kern die größte Kontinuität auf. Mit der preußischen Provinz Sachsen und dem 1863 vereinigten Herzogtum bzw. Land Anhalt zeichneten sich seit 1815 auch die Umrisse des späteren Sachsen-Anhalts ab. 1920 schlossen sich die thüringischen Kleinstaaten zum Land Thüringen zusammen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Auflösung Preußens 1945 entstanden erstmals die drei Länder weitgehend in ihrer heutigen Gestalt, wurden aber 1952 in der DDR schon wieder in kleinere Bezirke aufgeteilt. Seit 1990 sind nunmehr Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen föderale Bestandteile der Bundesrepublik Deutschland.
Geschichtslandschaft Mitteldeutschland
So mancher Landeshistoriker bedauert noch immer, dass es nicht zu jenem wettinischen Großstaat gekommen ist, wie er sich um 1500 abgezeichnete. Dieser hätte fraglos nicht zuletzt im Wettstreit von „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ eine andere Rolle spielen können. Aber muss man dies wirklich als vertane Chance deuten? Hat nicht aus heutiger Perspektive gerade die historische Vielfalt ihren besonderen Reiz? So konnte sich dank der zahlreichen Residenzen eine einmalig dichte Kulturlandschaft vom klassischen Weimar über das Dessau-Wörlitzer Gartenreich bis zum barocken Dresden entfalten. Von dieser Region Mitteldeutschland sind zudem zahlreiche Impulse für die Moderne ausgegangen.
Damit bleibt aber die Frage, ob man Mitteldeutschland tatsächlich als eine Geschichtslandschaft fassen kann. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Name noch sehr jung ist und vor allem auf die Reichsreformdebatten der 1920er-Jahre zurückgeht. Einige der Vorschläge nahmen bereits die heutige Situation vorweg, indem etwa der Landeshauptmann der Provinz Sachsen, Erhard Hübener, 1929 für die Bildung der drei Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen innerhalb eines engeren Verbundes Mitteldeutschland plädierte. Andere Pläne sahen einen Zusammenschluss von Thüringen, Anhalt und der Provinz Sachsen vor oder bezogen sogar Sachsen mit ein. Niedergeschlagen haben sich diese Großraumvisionen etwa in der Mitteldeutschen Rundfunk AG in Leipzig (1924), dem Vorgänger des heutigen MDR. Neben einigen Alternativen, etwa der revanchistisch konnotierten Bezeichnung der DDR als Mitteldeutschland in der alten Bundesrepublik, hat sich dieser Sprachgebrauch weitgehend etabliert.
Schon in den Diskussionen der 1920er-Jahre spielte die übergreifende Geschichte eine wichtige Rolle. Bereits im 6. Jahrhundert hatte das mächtige Königreich der Thüringer weite Teile Mitteldeutschlands umschlossen. Die vielen historischen Verbindungen ziehen sich weiter von den Wettinern und dem „Kernland der Reformation“ bis hin zu vier Jahrzehnten DDR an der innerdeutschen Grenze. Ein einendes Band ist auch die große Kulturgeschichte als Land Luthers, Bachs, Goethes und des Bauhauses. Verstärkt wird die Gemeinsamkeit durch kulturell-sprachliche Eigenheiten. Zugleich hebt sich Mitteldeutschland bei allen Überschneidungen erkennbar von den umliegenden historischen Räumen ab.
Landesbewusstsein und historische Verknüpfung
Allerdings sollte man sich davor hüten, Mitteldeutschland in integrativer Absicht zu einer historischen Einheit zu erklären. Dem widerspricht auch, dass vor allem in Sachsen und Thüringen ein fest verwurzeltes landsmannschaftliches Bewusstsein existiert. Dieses reicht weit zurück, gewann seit dem 19. Jahrhundert deutlich Gestalt und konnte auch in 40 Jahren DDR nicht beseitigt werden. Die sächsische Landesgeschichte mit Fixsternen wie August der Starke entfaltet eine hohe identitätsstiftende Kraft. Auch in Thüringen hielt sich immer das Bewusstsein einer historischen „Einheit in der Vielfalt“. Diese reicht bis zum Königreich und zu den sagenumwobenen Landgrafen auf der Wartburg zurück und überlagert das „Land der Residenzen“. In Sachsen-Anhalt mit seiner weniger ausgeprägten Landestradition beruft man sich auf die vorgeschichtliche Zeit, die ottonische Königsmacht, die Reformation oder die moderne Industrieregion.
Angesichts dieses tief verwurzelten Landesbewusstseins verwundert es nicht, dass die Renaissance der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit zu den Forderungen der friedlichen Revolution 1989 zählte. In den folgenden großen Umbrüchen boten die Länder als vertraute Heimat Orientierung und Halt. Mittlerweile sind sie ein selbstverständlicher Teil des föderalen Deutschlands. So dürfte eine Mehrheit der Sachsen, Sachsen-Anhalter und Thüringer den Forderungen nach einem Bundesland Mitteldeutschland, dessen Einsparpotenzial ohnehin umstritten ist, eher skeptisch gegenüberstehen. Dem Bewusstsein der vielfachen historischen Verknüpfungen und einer engeren Kooperation, wie sie vor allem seit drei Jahrzehnten vom Mitteldeutschen Rundfunk und seit Kurzem auch von dieser Zeitschrift verkörpert wird, muss dies aber keineswegs widersprechen.
Dr. Steffen Raßloff (Jg. 1968) ist Historiker aus Erfurt und Autor landesgeschichtlicher Standardwerke wie
Geschichte Thüringens (Beck-Verlag 2020) und hat mit Mitteldeutsche Geschichte. Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen (Sax-Verlag, 2. Auflage 2019) die erste Überblicksdarstellung zur Region veröffentlicht.
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