Zum 275. Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes: Zwei aktuelle Bücher widmen sich dem Wirken des Dichters als Klassiker und als Familienmensch.
von Frank Kaltofen
Schon zu Lebzeiten galt Goethe als „Olympier“, als Genie und Gigant, als gefragter Welterklärer weit über die Grenzen des beschaulichen Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach hinaus.
Wie sein eigener Nachkomme unter der väterlichen Berühmtheit gelitten hat, rekonstruiert der Germanist Stephan Oswald in der umfangreichen Biographie Im Schatten des Vaters. August von Goethe. „August war ein Trinker, wie es damals hieß. […] In der spärlichen kollektiven Erinnerung ist es das hervorstechende, am schärfsten mit dem väterlichen Genie kontrastierende Merkmal, das sein Bild als eine haltlose Existenz geprägt hat,“ beschreibt Oswald und ergänzt geradezu programmatisch: „Wie so vieles in der herrschenden Meinung bedarf auch dieses Urteil einer Korrektur.“
Oswald hat sich durch die in den Weimarer Archiven lagernden Handschriften August von Goethes gewühlt und den umfangreichen Briefwechsel zwischen Vater Goethe und dem einzigen Sohn ausgewertet. August, im Dezember 1789 als uneheliches Kind zur Welt gekommen (erst 1806 heiratet Goethe Augusts Mutter, Christiane Vulpius) verbringt eine Kindheit unter weitgehender Abwesenheit des Vaters: Der zog sich oft zum Arbeiten nach Jena zurück, weg von August und Christiane. Auch in späteren Jahren noch, so beschreibt es Oswald, sind Begegnungen mit seinem Vater für August immer etwas Besonderes.
„Der Fluch seines Namens“
Der erwachsene August wurde mit seinem Nachnamen niemals glücklich. Oswald wird nicht müde zu betonen: August wollte niemals der „junge Goethe“ sein, sei darum auch nie mit dem Namen bewusst nach außen aufgetreten.
Der Vater machte dafür seinen Einfluss geltend, wie Oswald beispielhaft an einer Begebenheit aus der Zeit der Napoleonischen Kriege zeigt: Der Sohn hatte sich für das Freiwilligen-Korps des Herzogtums im Krieg gegen Napoleon 1813/14 gemeldet; der Vater stellte durch seine einflussreichen Kontakte aber sicher, dass sein – eine Ausnahme zur damaligen Zeit – einziges Kind gar nicht erst in die Nähe der Kampfhandlungen kam. „Damit war das Problem, das Goethe so beunruhigt hatte, gelöst: Sein Sohn blieb zu Hause, hatte aber gleichzeitig den Status eines Freiwilligen.“ August wurde in der Folge sehr als Drückeberger verspottet; eine daraus resultierende Duell-Forderung im Mai 1814 schaffte wiederum Vater Goethe aus der Welt. Doch Augusts Ansehen hatte Schaden genommen. Oswald: „Es entstand abermals der Eindruck, den August so sehr fürchtete, nämlich von Namen und Einfluss des Vaters abhängig zu sein.“
„Die Ansprüche zu erfüllen, war unmöglich; sich davon freizumachen, ebenso.“
August selbst sah sich zu Lebzeiten, so zitiert ihn Oswald, „durch den Vergleich mit dem Vater unerfüllbaren Erwartungen ausgesetzt“. Laut dem Biographen könne man sogar sagen: August hat unter dem großen Namen gelitten. Die Auswirkungen, so beschreibt es Oswald anhand der Archivquellen, zeigten sich bis hinein in Augusts äußerliches Auftreten: eine Art Alter Ego, bewusst burschikos und grob, in Ablehnung jeglicher Form von schöngeistiger Anwandlung. Eine bewusste Abgrenzung also zu den hohen Sphären der Weimarer Dichterwelt.
Demgemäß griff August wohl auch nur selten selbst zur Feder; der Legastheniker habe Schreiben laut Oswald „mehr als Mühe denn als inneren Ausdruck empfunden“. Dennoch existieren literarische Texte von August – im Anhang von Oswalds Buch finden sich drei bislang nie veröffentlichte Prosa-Fragmente aus den letzten Lebensjahren vor und während Augusts großer Italienreise. Der Forscher hatte die Handschriften durch glückliche Zufälle im Staatsarchiv in Weimar entdeckt, wo sie zuvor nie dem Urheber August von Goethe zugeordnet worden waren.
Die Stärke von Oswalds Recherchen und dem daraus resultierenden Buch zeigen sich an Zweierlei: Zum einen betrachtet er nicht nur August als Person, sondern immer auch die Weimarer Gesellschaft der damaligen Zeit, mitsamt allerlei Befindlichkeiten, Tratsch, Sympathien und Antipathien. Und er schafft es zweitens, sich von der Bewunderung für den Olympier-Vater frei zu machen, die vielen Autoren einen allzu kritischen Blick auf Johann Wolfgang Goethe verstellt.
„Die Nummer zwei zu sein bedeutet, nichts eigenständiges, sondern immer nur die Fortsetzung dessen darzustellen, was von der Nummer eins gesetzt ist.“
(Stephan Oswald in Im Schatten des Vaters)
Peter Hacks über Goethe: Freispruch auf ganzer Linie
Der vollsten Olympier-Verehrung gibt sich hingegen Peter Hacks hin, dessen gesammelte Essays zur Klassik, programmatisch überschrieben als Die Verteidigung Goethes, im Eulenspiegel-Verlag erschienen sind. Der 2003 verstorbene Dramatiker und überzeugte Kommunist, der 1955 in die DDR emigrierte, befasste sich in seinem essayistischen Wirken so eingehend mit Goethe wie mit keinem anderen Autor. „Goethe, Hegel und Heine“ nennt er „die größten Geister unserer Nation“.
Hacks macht nie einen Hehl daraus, dass er Goethe über die anderen deutschsprachigen Klassiker stellt, in ihm mehr als einen Dichter sieht: „Für die Genies der Dichtkunst gilt nicht, was für die Dichter gilt, und was für die Genies gilt, gilt nicht für die Dichter“, schreibt er und ergänzt, fast schelmisch: „Es steht sehr dahin, ob Schiller überhaupt dasselbe Metier ausübte wie Goethe.“
„Ein Klassiker ist ein Künstler, der, von seinem Tode an gerechnet, hundert Jahre überlebt hat.“
In den gesammelten Essays seziert Hacks gleichsam Werk und Charakter seines liebsten Klassikers, und das überaus wohlwollend, manchmal fast zärtlich. Menschlich kann es für Hacks an Goethe keinen Makel geben, dichterisch auch nur in Einzelfällen. Zur Faust-Tragödie etwa, zunächst kritisch: „Gretchens Dürftigkeit ist ärgerlich aus zwei Gründen. Weil, erstens, ein Charakter ohne Widerspruch langweilig und schwer zu spielen. Weil, zweitens, Goethe mit ihr offenbar auf so Positives hinauswill, daß er sie sogar als Fazit des ganzen Stücks, als Kleister für alle Risse der Klassengesellschaft anbietet.“ Doch wie in Schutz nehmend relativiert er danach diese Kritik als „Goethes Versuch am untauglichen Objekt“.
Ähnlich offenbart Hacks seine geradezu apologetische Ehrfurcht vor dem unfehlbaren Olympier, wenn er sich Goethes Zerwürfnis mit Jakob Michael Reinhold Lenz 1776 widmet: Seine ebenso minutiöse wie einseitige „kriminalistische Recherche“ zu den damaligen Geschehnissen im klassischen Weimar endet mit einer Absolution für den „überduldsamen Goethe“.
„Mit Goethe ist dem Menschengeschlecht ein Mal was Rechtes gelungen. Das Gelungene soll sich dafür entschuldigen, daß es nicht auch mißlang, wie das übrige?“
(Peter Hacks in Die Verteidigung Goethes)
Der 1928 geborene Hacks schreibt auch dann Literatur, wenn er Essays verfasst; diese sind bei ihm mindestens so sehr Poesie wie Programmatik – und das kann mitunter etwas ermüdend sein. Das Zum-Punkt-Kommen ist dann von allzu vielen sprachlichen Schleifchen verbaut.
Hacks nutzt seine Auseinandersetzungen mit der Epoche und dem Wirken Goethes zudem allzu gern für polemische Seitenhiebe; besonders leidenschaftlich ätzt er immer wieder gegen die Romantiker. Ebenso teilt er aus gegen „die Medien“ (genauer „den Bildschirm“), an anderer Stelle sogar namentlich gegen den SPIEGEL (der dem Dramatiker 1958 attestierte „in seinen Schauspielen historische Begebenheiten so zu verändern, daß sie mit marxistischen Theorien übereinstimmen“).
Für die FAZ war Hacks ein „großer Demagoge und vollendeter Poet“, den Frank Schirrmacher in einem Nachruf als „unser letzter Klassiker“ betitelte. Ob Hacks solch eine Bezeichnung gutgeheißen hätte, bleibt fraglich. Über „seine“ Klassiker wie Goethe schrieb er jedenfalls, rhetorisch fragend: „Und man sollte sie nicht auf einen Sockel stellen? Gewiß nicht. Sie stehen da längst.“
Stephan Oswald:
Im Schatten des Vaters – August von Goethe. Eine Biographie
C.H. Beck 2023
424 Seiten
Peter Hacks:
Die Verteidigung Goethes – Essays zur Klassik
Eulenspiegel Verlag 2024
272 Seiten
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