Schwimmende Kirchenkuppel VINETA, auf dem Störmthaler See, zur Erinnerung an das frühere Dorf Magdeborn.

Bergbaubedingte Umsiedlungen in Mitteldeutschland: 
Spurensuche zu den „verlorenen Orten“

Unzählige Dörfer und Kulturgüter mussten über verschiedene politische Systeme hinweg der Braunkohle weichen. Ein historischer Rückblick.

von Prof. Dr. habil. Andreas Berkner

(Foto: VINETA auf dem Störmthaler See, Foto des Autors)

Umsiedlungen bilden zweifellos die schwerwiegendsten Eingriffe der Bergbautätigkeit in „gewachsene“ Kulturlandschaften und in die Lebensplanung von Betroffenen. Nachdem Einzelinanspruchnahmen von Gebäuden in verschiedenen Teilrevieren etwa ab dem Jahr 1870 in Erscheinung traten, führte der Übergang zu Großtagebauen ab 1920 zu einer zunehmenden wirtschaftlichen Machbarkeit der Überbaggerung kompletter Siedlungen gegenüber ihrer Umfahrung. Insgesamt fielen in Mitteldeutschland rund 140 Ortslagen dem Braunkohlenbergbau ganz oder teilweise zum Opfer, was mit der Umsiedlung von ca. 53.000 Menschen verbunden war. Mit dem nunmehr beschlossenen Kohleausstieg im hiesigen Revier bis 2035 steht fest, dass keine weiteren mehr hinzukommen.

Die ersten tagebaubedingten Ortsverlagerungen traten an mehreren Stellen in Mitteldeutschland fast gleichzeitig in Erscheinung: Nachterstedt (Aschersleben) 1925, Rusendorf (Meuselwitzer Revier) 1928-33, Runstedt (Geiseltal) 1929-31, Gaumnitz (Zeitz-Weißenfels) 1932. Allerdings blieben diese bis zum Ende der 1940er Jahre noch auf Einzelfälle beschränkt, ehe es in den 1950er Jahren zu einem sichtbaren, sprunghaften Anstieg kam, zunächst im heute zu Sachsen-Anhalt gehörenden Geiseltal. In einzelnen Fällen (Nachterstedt, Edderitz, Pirkau) entstanden neue Dörfer zur Aufnahme der betroffenen Menschen und sogar Kirchenneubauten zu „sozialistischen Zeiten“. Zu erwähnen ist, dass auch unplanmäßige Umsiedlungen durch Havarien ausgelöst (Fließrutschung im Jahr 1927 mit einem Todesopfer und Aufgabe von Lippendorf und Spahnsdorf bei Böhlen, Nachterstedt in 2009) oder zumindest heraufbeschworen wurden (Fließrutschungen an der Ostflanke der Halde Trages mit Vordringen in die gleichnamige Ortslage 1958; hieran erinnert heute ein Gedenkstein).

Aus Dörflern wurden Plattenbau-Bewohner

Unter den Bedingungen der früheren DDR wurden bergbaubedingte Umsiedlungen fast zur Routine. So war für den Südraum Leipzig eine über Jahrzehnte konstant hohe Betroffenheit (insgesamt fast 70 Gesamt- und Teilverlegungen mit rund 23.000 Menschen) zu verzeichnen, während Ortsverlagerungen im Geiseltal und im Bitterfelder Revier seit Mitte der 1970er Jahre deutlich nachließen und das Delitzscher Revier erst seit dieser Zeit erfasst wurde. 

Dörfer mit langjährigen Lagen in „Bergbauschutzgebieten“ und Entwicklungsnachteilen durch untersagte oder unterlassene Investitionen sowie Wegzüge von Menschen, die keine Zukunft am Ort mehr sahen, unterdrückte Akzeptanzprobleme und zuweilen an Enteignung grenzende Entschädigungen kennzeichneten die Entwicklungen, die im Bewusstsein von Betroffenen mitunter bis heute nachwirken. Dörfler wurden vielfach zu Plattenbaubewohnern; das in den 1980er Jahren im damaligen Bezirk Leipzig praktizierte und durchaus progressive Prinzip eines Naturalersatzes überforderte die örtlichen Baukapazitäten und blieb deshalb im Ansatz stecken.

Zwischen 1980 und 1989 vorangetriebene „Geheimplanungen“ hätten bei ihrer Realisierung im Nord- und Südraum Leipzig, östlich von Halle (Hatzfeld) und im Bereich Bad Düben-Wildenhain zu einer Vervielfachung von Umsiedlungen, sogar mit der Erfassung von Kleinstädten wie Pegau oder Zwenkau geführt. Auch so blieben die Auswirkungen dramatisch, wie die Inanspruchnahme großer Ortslagen wie Zechau-Leesen (Altenburger Land, 1950-52, 1.310 Einwohner), Edderitz (Anhalt-Bitterfeld, 1952, 1.200 Einwohner), Zörbigker (Geiseltal, 1968-69, 2.300 Einwohner), Niemegk (Bitterfeld, 1977-78, 2.000 Einwohner), Magdeborn (Espenhain, 1977-80, 3.200 Einwohner) oder Bösdorf/Eythra (Zwenkau, 1980-87, 3.500 Einwohner) belegt. Kulturlandschaftlich besonders gravierend war der Verlust von 54 Kirchen sowie von zahlreichen Herrenhäusern und stattlichen Bauerngütern.

Gedenkstein für die Gemeinde Niemegk, die in den 1970er Jahren dem Kohleabbau weichen musste.

Gedenkstein für die Gemeinde Niemegk im heutigen Landkreis Anhalt-Bitterfeld, die in den 70er Jahren „der Kohle zum Opfer fiel“.

(Foto: A. Bergner)

Folgen des politischen Umbruchs

Im Ergebnis der politischen Wende und der Wirtschafts- und Währungsunion 1989/90 traten differenzierte Entwicklungen in Erscheinung. Durch den raschen Bedeutungsverlust der Braunkohlenindustrie erledigte sich die Umsiedlungsbedrohung für die meisten Ortslagen bis 1993. Allerdings waren auch Umsiedlungen ohne anschließende Auskohlung der Flächen (Werbelin und Paupitzsch bei Delitzsch, Bockwitz im Südraum Leipzig) zu verzeichnen; weit fortgeschrittene Aussiedlungen wurden zu schwierigen Revitalisierungsfällen (Sausedlitz bei Delitzsch, Dreiskau-Muckern im Südraum Leipzig), die erfolgreich bewältigt werden konnten. 

Zugleich wurde mit den struktur- und energiepolitischen Grundsatzentscheidungen für einen Weiterbetrieb der Tagebaue Vereinigtes Schleenhain und Profen deutlich, dass auch künftig Umsiedlungen nicht vollständig zu vermeiden sind. Dabei zeigten die Fälle Schwerzau und Großgrimma (Zeitz-Weißenfels), dass es mit fairen, dem Grundsatz „Neu für Alt“ entsprechenden Entschädigungsangeboten und der Errichtung neuer Siedlungen nach den Vorstellungen der Betroffenen möglich war, Akzeptanz und Sozialverträglichkeit zu erreichen.

Demgegenüber beschritt die Gemeinde Heuersdorf alle rechtsstaatlichen Wege, um die Umsiedlung noch aufzuhalten, ehe diese mit dem Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs vom 25.11.2005 zum Heuersdorfgesetz der Staatsregierung endgültig besiegelt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte auf der Grundlage des zwischen dem Freistaat und der MIBRAG mbH abgeschlossenen Heuersdorfvertrags vom Juni 1994, der sich als belastbare materielle Basis „zugunsten Dritter“ bewährt hatte, bereits mehr als die Hälfte der Bewohner selbstbestimmt den Ort verlassen. 

Ab 2005 kam es schließlich doch noch zur Entwicklung gemeinsamer Umsiedlungsstandorte in Regis-Breitingen („Am Wäldchen“), Hagenest (Kirschallee) und Frohburg („Neu-Heuersdorf“). Diese wurden in einer passablen städtebaulichen Qualität ausgeführt; für eine gemeinsame Umsiedlung der Heuersdorfer Bürger aber war es längst zu spät. 2009 verließen die letzten Bürger das Dorf. Nachdem sich die Mehrzahl der Bürger von Pödelwitz in der Folge eines Vertragsabschlusses 2012 für eine freiwillige Umsiedlung entschieden hatten und bis 2016 in Groitzsch eine neue Heimat fanden, steht im Zuge des Kohleausstiegs nunmehr fest, dass es in Mitteldeutschland keine weiteren bergbau-
bedingt „verlorenen Orte“ mehr geben wird und der Ort damit erhalten bleibt. Auch für Obertitz bei Groitzsch ist dieses Schicksal abgewendet.

Gedenken heute

Von der Mehrzahl der „verlorenen Orte“ blieb nicht viel mehr als die Erinnerung erhalten. An einigen Stellen verweisen Gedenksteine (etwa „Eisernes Kreuz“ Paupitzsch, Werbelin, Cröbern/Crostewitz, Blumroda, Ruppersdorf, Schleenhain, Rusendorf, Stöntzsch) und  neue Namensgebungen (beispielsweise Gremminer, Seelhausener, Werbeliner, Schladitzer, Cospudener, Hainer, Pereser sowie Runstedter See; Magdeborner Insel) sowie Informationstafeln zu untergegangenen Dörfern (etwa in Geiseltal) auf diese Vergangenheit. 

Besonders prägnante Sachzeugen bilden die 2007 von Heuersdorf nach Borna umgesetzte Emmauskirche, die als wichtiges Baudenkmal für die Nachwelt erhalten werden konnte, sowie die VINETA als „schwimmende Kirchenkuppel“ auf dem Störmthaler See zur Erinnerung an das frühere Dorf Magdeborn. Diese bilden zusammen mit dem neuen Standort für Großgrimma am Südhang Hohenmölsen wichtige Bestandteile der Mitteldeutschen Straße der Braunkohle, die zugleich für Vergangenheitsbewältigung und Identitätsbewahrung stehen.

Der Autor

Prof. Dr. habil. Andreas Berkner ist Honorarprofessor am Institut für Geographie der Universität Leipzig und Leiter der Regionalen Planungsstelle im Regionalen Planungsverband Leipzig-Westsachsen. Er ist u.a. Herausgeber des Exkursionsführers „Auf der Straße der Braunkohle“ (Leipzig 2016). In 2022 erschien zudem der von ihm mitherausgegebene Band „Bergbau und Umsiedlungen im Mitteldeutschen Braunkohlenrevier“.

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