Viele zivilgesellschaftliche Initiativen, Museen und Wissenschaftler:innen in Sachsen arbeiten die historischen kolonialen Verflechtungen des Freistaats mit der außereuropäischen Welt und deren Fortwirken bis in die Gegenwart auf.
von Mathias Hack
Abenteurer, Kaufleute und Unternehmen, Missionsgesellschaften, Schriftsteller:innen, Wissenschaftler:innen und Herrscherhäuser aus Sachsen waren in vielfältiger Weise am europäische Kolonialismus beteiligt. Sie profitierten und beteiligten sich an der Ausbeutung in europäischen Kolonien, propagierten und popularisierten rassistische Denkmuster und Weltbilder, eigneten sich Kunst- und Alltagsgegenstände anderer Kulturen an, gründeten koloniale Organisationen und besuchten Menschenausstellungen. Spuren der Kolonialzeit und Kontinuitäten dieses Weltbildes zeigen sich heute in den Sammlungen sächsischer Museen, an Gebäudefassaden und -verzierungen sächsischer Groß- und Kleinstädte oder im Umgang mit Migrant:innen und Geflüchteten.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser kolonialen Vergangenheit und ihren Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart ist der Gegenstand postkolonialer oder dekolonialer Arbeit. In Sachsen setzten sich zivilgesellschaftliche Initiativen, Museen, Bibliotheken und Wissenschaftler:innen mit dem kolonialen Erbe auseinander. Sie haben sich 2022 als loses Netzwerk „Sachsen postkolonial“ zusammengefunden, um ihren Austausch zu intensivieren und die aktuelle Relevanz der Aufarbeitung zu unterstreichen. Im Mittelpunkt stehen dabei unterschiedliche Themenfelder: die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte von einzelnen Institutionen; der Umgang mit musealen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, aber ebenso Antirassismus-Arbeit und die Sichtbarkeit von BIPoC (Black, Indigenous und People of Color) in Vergangenheit und Gegenwart. In mehreren der genannten Punkte zeigen sich Kontinuitätslinien aus der Kolonialzeit bis ins sächsische Heute.
Schon 1731 sandte der sächsische Kurfürst August der Starke eine erste Expedition nach Nordafrika, um Kunst- und Alltagsgegenstände „sammeln“ und um wilde Tiere fangen zu lassen. Das „Sammeln“ (oftmals eine Aneignung mit gewaltsamen Methoden), Aufkaufen und Handeln mit ethnographischen Objekten betrieb im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur das sächsische Kurfürsten- und Königshaus zu Prestigezwecken, sondern beispielsweise auch kleinere Fürstenhäuser wie von Schönburg-Waldenburg. Auf ähnliche Weise aktiv waren Missionsgesellschaften wie die Herrnhuter Gemeinde oder das Leipziger Missionswerk und in den folgenden Jahrzehnten auch immer mehr Privatpersonen aus den vermögenden Schichten in den sächsischen Metropolen.
Erwerbungsumstände oft bis heute ungeklärt
Um 1900 sollte das Aneignen von Gegenständen – seien es Waffen aus Ostafrika, Masken aus dem heutigen Papua-Neuguinea oder Porzellan aus China – einen Höhepunkt erreichen. Das Leipziger Völkerkundemuseum, Vorgänger des heutigen GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, war unter der Leitung von Karl Weule zu diesem Zeitpunkt eine der aktivsten Sammlungsinstitutionen deutschlandweit. In den Beständen der großen und kleinen Museen, Missionswerke und privaten Sammlungen in Sachsen lagern als Ergebnis bis heute eine Vielzahl von Objekten, deren Herkunft, Erwerbungsumstände und Restitution es zu prüfen gilt. Dazu zählen beispielsweise einige seit Jahrzehnten aus Nigeria zurückgeforderte Benin-Bronzen und menschliche Gebeine aus Nordamerika und Australien.
Zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte gehört auch das Sichtbarmachen von Biographien der BIPoC aus außereuropäischen Regionen, die freiwillig oder unfreiwillig nach Sachsen kamen. Dazu zählen beispielsweise die jungen schwarzen Menschen, deren Besitz und Präsentation an sächsischen und thüringischen Höfen in der Frühen Neuzeit als prestigeträchtig galt. Über ihre Erfahrungen und Lebensalltag wissen wir heute meist nur wenig. Dies gilt auch für die als Machbuba bekannt gewordene junge Frau aus dem heutigen Äthiopien, die Herrmann von Pückler-Muskau 1837 in Kairo als Sklavin kaufte und zu seiner Geliebten machte. Die Minderjährige verweigerte sich dem Fürsten, verstarb 1840 in Bad Muskau und wurde auf dem dortigen Friedhof beerdigt.
Sammlungsobjekt mit Kolonialvergangenheit (aus dem Museum Burg Mylau im sächsischen Vogtland): ein Ekori aus Namibia, das von Frauen als eine Art Kopfschmuck getragen wurde. Es gelangte 1904 zum Naturkundeverein Reichenbach, als Teil einer Schenkung des Hoteliers und Sammlers Ernst Bernhard Kandler (1865-1924), der sich zuvor länger in der damaligen deutschen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ aufgehalten hatte. Die genauen Erwerbsumstände bleiben bisher (Bearbeitungsstand: 2023) ungeklärt.
(Foto: Museum Burg Mylau, V 15169 N, Fotograf: Carsten Steps, 2022)
Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre kamen schließlich zahlreiche Personen aus Asien, Afrika und Ozeanien für die zeitgenössischen populären Menschenausstellungen („Völkerschauen“) nach Sachsen. In den Ausstellungen im Dresdner oder Leipziger Zoo, Chemnitzer Tiergarten oder in Plauen führten die Ausgestellten alltägliche Handlungen wie Waschen, Kochen oder handwerkliche Tätigkeiten vor, oder inszenierten Tänze und Kriegsszenen. Diese wahlweise als Unterhaltung, zeitgenössisches Bildungsprogramm oder Werbung für koloniale Projekte verstandenen Veranstaltungen präsentierten dem sächsischen Publikum diese Menschen als grundlegend andersartig, aufregend exotisch, unzivilisiert oder schlicht als „Wilde“. Die Zurschaustellungen propagierten damit ein koloniales und rassistisches Weltbild.
Diese Weltbilder sind nach wie vor Teil der gesellschaftlichen Realität in Sachsen. Sie zeigen sich in strukturellen Diskriminierungen, alltäglichen Anfeindungen und Gewalt gegenüber Menschen mit schwarzer Hautfarbe, Migrant:innen und Geflüchteten. Sie sind koloniale Kontinuitäten, ebenso wie die zahlreichen Kulturgüter anderer Gesellschaften und menschliche Gebeine in Museen und Sammlungen. Die Liste ließ sich fortführen: Zahlreiche öffentliche Einrichtungen, Universitäten, Zoologische Gärten und Unternehmen im Freistaat haben koloniale Vergangenheiten, die nur teilweise oder unzureichend aufgearbeitet sind. Eine erfreuliche Nachricht ist, dass an verschiedenen Orten in Sachsen bereits seit vielen Jahren Menschen Aufarbeitung betreiben: In Dresden, Chemnitz oder Leipzig kooperieren und diskutieren beispielsweise Museen, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Initiativen bereits miteinander.
Initiativen sachsenweit vernetzen
Um eine Kooperation der verschiedenen Forschungs- und Aufarbeitungsprozesse auf einer sachsenweiten Ebene zu ermöglichen, fand im Sommer 2022 ein Vernetzungsworkshop in Leipzig statt. Dabei präsentierten 22 Institutionen, Initiativen und Projektverantwortliche ihre aktuelle Arbeit sowie Herausforderungen und Visionen für eine nachhaltige Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit. Die Themenvielfalt reichte von den finanziellen, personellen und rechtlichen Hürden großer und kleiner Museen in der Dekolonisierung ihrer Ausstellungen über den Umgang mit kolonialem Bild- und Quellenmaterial in Archiven und Bibliotheken bis zum Dekonstruieren und Verlernen von Kolonialismus und Rassismus in der politischen Bildungsarbeit. Auch die kritische Begleitung all dieser Prozesse durch zivilgesellschaftliche Initiativen wurde diskutiert. Es zeigte sich: Als besondere Herausforderung erleben vor allem Einrichtungen im ländlichen Raum die organisierten Störaktionen von Rechtsextremen gegen eine kritische Aufarbeitung der Geschichte. Die Initiativen „Leipzig postkolonial“, „Dresden postkolonial“ sowie „Colonial Memory:ReTelling DOAA“ aus Leipzig kritisierten zudem den nicht ausreichenden Einbezug von BIPoC-Personen in die Aufarbeitung und beklagten eine zu starke Verwissenschaftlichung der gesamten Thematik.
Den Wunsch nach weiterer Vernetzung und Zusammenarbeit unterstrichen alle Teilnehmer:innen. Über die jeweiligen musealen, wissenschaftlichen oder aktivistischen Blasen hinaus zusammenzukommen, scheint ein wichtiger Baustein für eine umfassende Beschäftigung mit diesem Thema von hoher gesellschaftlicher Bedeutung zu sein. Die Stärken eines kritischen wissenschaftlichen, musealen oder aktivistischen Zugangs können sich dabei erfolgreich ergänzen und gegenseitig befruchten. Die vergangene Ausstellung der Projektgruppe „Colonial Memory: ReTelling DOAA“ unterstreicht das in besonderer Weise: Die Gruppe setzte sich mit einer 1897 im Leipziger Clara-Zetkin-Park organisierten Kolonialausstellung auseinander und bereitete historisches Quellenmaterial kritisch auf. Dazu luden sie Künstler:innen zur Intervention ein und produzierten Lernmaterial für die weiterführende Bildungsarbeit. Die Schilderung der Eindrücke und Emotionen einer fiktiven afrikanischen Ausgestellten in einem Hörstück zeigte eine Möglichkeit auf, um historische Marginalisierung zu überwinden und – zumindest ansatzweise – Perspektiven zu wechseln.
Als ein erstes Ergebnis des Vernetzungsworkshops findet sich auf der Webseite von „Sachsen Postkolonial“ inzwischen eine Übersicht all der Institutionen, die sich mit dem kolonialen Erbe Sachsens und seinen (post-)kolonialen Kontinuitäten beschäftigten. Diese sich stetig erweiternde Liste ist ein weiterer Wegpunkt in einem Aufarbeitungsprozess, auf dem noch viele Etappen zu meistern sind.
Mathias Hack ist Doktorand am Lehrstuhl für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts der Universität Leipzig. Neben der Aufarbeitung kolonialen Vergangenheit Leipzigs
und Sachsens arbeitete er zur Geschichte des Tourismus in Ostafrika.
„Sachsen Postkolonial“ ist ein Zusammenschluss zahlreicher Institutionen und Organisationen, die an der Aufarbeitung von Sachsens kolonialem Erbe
und seinen (post-)kolonialen Kontinuitäten arbeiten. Eine Übersicht findet sich auf der Homepage zum Projekt.
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