Der Thüringer Forschungspreis ging in diesem Jahr u.a. an den Kompetenzcluster nutriCARD, ein gemeinsames Vorhaben im Universitätsbund Halle-Jena-Leipzig. Wie schaffen es die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Teller und in die Köpfe der Verbraucherinnen und Verbraucher?
Der Kompetenzcluster für Ernährung und kardiovaskuläre Gesundheit (nutriCARD) ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Verbundvorhaben der Universitäten Halle-Wittenberg, Jena und Leipzig, bei dem rund 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie 80 außeruniversitäre Partner fächerübergreifend zusammenarbeiten. Ziel ist es, Strategien zur Verbesserung der Ernährungsweisen in der Bevölkerung zu entwickeln, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser vorzubeugen. Das Kompetenzcluster wurde im Frühjahr 2021 vom Freistaat Thüringen für exzellente Forschungsleistungen in der Kategorie „Angewandte Forschung“ ausgezeichnet.
Prof. Dr. Stefan Lorkowski, Clustersprecher von nutriCARD, leitet die Geschäftsstelle an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er spricht im Interview über die Entwicklung marktreifer Lebensmittel, erfolgreiche Ernährungskommunikation und das langfristige Ziel eines Mitteldeutschen Zentrums für Ernährung und Gesundheit.
MdM: Die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist ein zentrales Thema bei nutriCARD. Wie lassen sich Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in die Praxis, also konkret zum Beispiel in unsere Küchen transferieren?
LORKOWSKI: In nutriCARD verfolgen wir einen fächerübergreifenden Ansatz: von Grundlagenforschung über Produktentwicklungen bis hin zur Verbraucherkommunikation und -bildung. Das zeigt sich auch an unserer Arbeit: Wir haben eine Reihe traditioneller Lebensmittel reformuliert. Das bedeutet, in ihrer Zusammensetzung so verändert, dass Aussehen, Geschmack und Kaugefühl gleichbleiben, aber Fett-, Salz- und/oder Zuckergehalt verringert wurden. Auch konnten wir einige Lebensmitteln mit Ballaststoffen oder mehrfach ungesättigten Fettsäuren anreichern. So kann der Verbraucher seine gewohnten Produkte weiter verzehren und sich trotzdem gesünder ernähren, ohne einen Unterschied zu merken. In den zurückliegenden sechs Jahren sind so 15 marktreife Wurstwaren, verschiedene Sorten Speiseeis, Burgerpatties sowie Backwaren entstanden. Selbst wenn es mal schnell gehen muss, kann mit dem Verzehr einer reformulierten Bockwurst im ballaststoffangereicherten Brötchen eine gesündere Mahlzeit gewählt werden. Darüber hinaus haben wir mit dem Ernährungskonzept zur Modulation kardiovaskulärer Risikofaktoren (MoKaRi) Menüpläne entwickelt und wissenschaftlich in ihrer Wirksamkeit bestätigt. Bei konsequenter Umsetzung der MoKaRi-Ernährungspläne können kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Cholesterinspiegel, Bluthochdruck, und Körperfettanteil effizienter gesenkt werden. Zudem sind die Menüpläne von den Probanden als sehr lecker und im Alltag umsetzbar bewertet worden.
Wie kann man ausgehend von diesen Erkenntnissen den Konsumenten beim Einkauf helfen?
Mit Hilfe der von uns in Zusammenarbeit mit einem Berliner Start-Up-Unternehmen entwickelten Smartphone-Applikation „nutriCARD – gesünder essen“ können Verbraucher auf einen Blick gesundheitsfördernde von eher gesundheitsschädlichen Produkten unterscheiden. Dazu muss einfach der Barcode auf den Lebensmitteln mit dem Handy eingescannt werden. Die nutriCARD-App basiert auf der Nährwert-Ampel „Nutri-Score“ und liefert genaue Daten zu Inhaltsstoffen, Nährwerten und bedenklichen Zutaten von Lebensmitteln, wie Joghurt, Keksen oder Limonaden. Die Lebensmittel werden basierend auf wissenschaftlich fundierten Algorithmen bewertet und in einer leicht verständlichen, fünfstufigen Farb- und Buchenstabenskala eingeordnet. Außerdem weist die App bei Bedarf auch Allergene oder gesundheitsrelevante Zusatzstoffe aus. So wird das Handy zum mobilen Ernährungsberater.
Sie sagten, dass im Rahmen von nutriCARD auch eigene Lebensmittel entwickelt werden. Wie werden diese getestet und vertrieben? Und wie erkennt man beim Kauf die Produkte, die in Zusammenarbeit mit nutriCARD entwickelt wurden?
Für die bereits eingangs skizzierten, ernährungsphysiologisch optimierten und marktreifen Lebensmittel wurden in Forschungsprojekten zunächst Prototypen entwickelt, die wissenschaftlich getestet wurden. Dazu gehören umfangreiche analytische und mikrobiologische Untersuchungen sowie die Schaffung rechtlicher Grundlagen. Auch sensorische Tests wurden durchgeführt, damit Geschmack und Konsistenz den Verbraucheransprüchen genügen können. Im letzten Schritt wurden Verbraucherumfragen sowie Verkostungen durch potenzielle Konsumenten durchgeführt. In Kooperationen mit Industriepartnern erfolgte ein Transfer des Wissens in Unternehmen in Form von Rezepten und Zubereitungshinweisen.
Eine Bezeichnung als „nutriCARD-Wurst“ ist nicht sinnvoll, denn die Verbraucher sollen ihre gewohnten Produkte kaufen und es soll auch im Ermessen des Fleischers vor Ort liegen, wie er seine Produkte nennt. Allerdings werden sie beworben mit „fettreduziert“, „Omega-3-angereichert“ und ähnlichen gesundheitsbezogenen Bezeichnungen. Schlussendlich unterliegen auch diese Bezeichnungen strengen Regularien, was gut ist. Für den Verbraucher interessant ist vielleicht, dass die reformulierten Produkte einen verbesserten Nutri-Score im Vergleich zu traditionellen Lebensmitteln erzielen.
Mit welchen Strategien kommuniziert nutriCARD Forschungsergebnisse und deren praktische Umsetzung an die Öffentlichkeit? Welche Schwierigkeiten gibt es dabei in einer Zeit, in der Stimmen, die Wissenschaft ablehnen oder ignorieren, zunehmend lauter werden?
Die Kommunikation ist in nutriCARD zu einer Schlüsseldisziplin gewachsen. Einerseits in der Forschung, denn die Ernährungskommunikation ist bislang ein relativ weißer Fleck in der deutschen Wissenschaftslandschaft, aber ungemein wichtig. Denn wir müssen auch eingestehen, dass – trotz mehr und mehr Informationen über Ernährung – sich die Menschen immer ungesünder ernähren. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, wie sich die Verbraucher informieren, wem sie vertrauen, was sie für Fakten für ihre Entscheidungen benötigen. Erst so kann der Weg vom Wissen zum Handeln und damit der Transfer gelingen. Daher erforscht eine Arbeitsgruppe Informationswege und öffentliche Diskurse genauso wie Social-Media-Angebote – was für jüngere Leute die Informationsquelle Nummer eins ist. Auch die Medienberichterstattung über Ernährung wird analysiert und ihre Macher, die Journalisten, werden in einer Berufsfeldstudie befragt. Andererseits hat nutriCARD mit dem Kommunikationsbüro eine zentrale Struktureinheit zur clusterweiten externen Kommunikation an der Universität Leipzig etabliert. In die Kommunikationsarbeit fließen aktuelle Forschungsbefunde aus der Ernährungskommunikation ein, hier entstehen innovative, zielgruppenspezifische Ansätze zum Dialog und zur Steigerung der öffentlichen Wahrnehmung. Neben der Medienarbeit und Standortkommunikation ist beispielsweise die Leipziger Buchmesse zu nennen, bei der nutriCARD 2018 die Arena des mitteldeutschen Unibundes bespielt hat: Es gab interaktive Vorträge, Kochshows, einen Sinnesparcours und ein Quiz rund um gesunde Ernährung. Mit der deutschlandweit einmaligen „Modellstadt für herzgesündere Ernährung“ werden Erkenntnisse aus der Ernährungsforschung und der Kommunikationswissenschaft in Hotellerie und Gastronomie gebracht – und damit auf den Teller des Verbrauchers.
Inwiefern spielen Aspekte von Nachhaltigkeit – mit Blick auf die Erzeugung von Nahrungsmitteln – eine Rolle in den Forschungen bei nutriCARD?
Nachhaltigkeit spielt eine entscheidende Rolle bei den Forschungsprojekten in nutriCARD. Insbesondere die Stärkung regionaler kleiner und mittelständischer Unternehmen ist zentraler Bestandteil unseres Forschungsauftrags. Deshalb kooperieren wir zum Beispiel mit vor Ort ansässigen Fleischereien, die das traditionelle Handwerk pflegen und im direkten Kundenkontakt stehen. Diese arbeiten in der Regel lokal und verarbeiten regionale Lebensmittel, wodurch sie eine entsprechend gute CO2-Bilanz vorweisen.
Wie profitiert nutriCARD von dem mitteldeutschen Zusammenspiel im Universitätsbund Jena-Halle-Leipzig? Wie sieht die „Arbeitsteilung“ zwischen den drei Hochschulen aus?
Die Zusammenhänge, die einer gesunden Ernährung bzw. einem gesunden Lebensstil zugrunde liegen, sind komplex. Nur durch eine fächerübergreifende Zusammenarbeit der drei Hochschulen war es möglich, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in nutriCARD erfolgreich umzusetzen. Jede Hochschule hat ihren eigenen Schwerpunkt und spezifische Kompetenzen eingebracht. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg liegt der Schwerpunkt auf molekularbiologische Untersuchungen und Tierstudien sowie der Vitamin-D-Forschung. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena werden primär Interventionsstudien durchgeführt sowie Bildungsmaterialien entwickelt. An der Universität Leipzig findet die Reformulierung von Lebensmitteln statt und es wird zur Ernährungskommunikation geforscht. In nutriCARD ist es gelungen, sich vielfältig interdisziplinär zu vernetzen: Ausgehend von den drei Universitäten wurden mehr als 80 Praxispartner vereint und nationale wie internationale Kooperationen forciert. Somit ist es möglich, beachtliche Forschungsergebnisse zu generieren, zu publizieren und neue Impulse in der Ernährungsforschung und damit assoziierten Forschungsfeldern zu geben. Damit konnte die Wissenschaftslandschaft in Mitteldeutschland strukturell gestärkt und ihre fächerübergreifende Ausrichtung sowie internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden.
Langfristiges Ziel ist ein gemeinschaftlich getragenes „Mitteldeutsches Zentrum für Ernährung und Gesundheit“. Wie sehen die bisherigen Planungen und nächsten Schritte dafür aus?
Um langfristig angelegte Forschungs- und Entwicklungsvorhaben voranzubringen und umzusetzen, bedarf es einer gezielten und strukturellen Weiterförderung der Ernährungswissenschaften und der damit verbundenen Fachdisziplinen. Gerade in Mitteldeutschland! Daher ist es unser gemeinsames Ziel, ein dringend benötigtes mitteldeutsches Zentrum für Ernährung und Prävention von Stoffwechselerkrankungen aufzubauen. Wir wollen auch zukünftig exzellente Forschung, innovative Entwicklungen und effizienten Wissens-transfer in Wirtschaft, Politik, Medien und Bevölkerung vorantreiben. Nur so lässt sich unser gemeinsames Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung durch eine ausgewogenere Ernährung zu verbessern, umsetzen. Dass wir mit unserem Ansatz richtigliegen, zeigte sich in der positiven Evaluierung durch ein internationales Gutachtergremium am Ende der ersten Förderperiode. Aber auch durch die Auszeichnung für besondere Verdienste und Entwicklungen in der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft Mitteldeutschlands des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer im Jahr 2019 sowie durch die Verleihung des Thüringer Forschungspreises in diesem Jahr.
Wir stehen seit langem sowohl mit den Landesregierungen von Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt als auch mit verschiedenen Bundesministerien im regen Austausch. Die Hochschulleitungen der drei Universitäten sind an einer Weiterentwicklung von nutriCARD interessiert. Wir sind uns einig, dass überregionale koordinierte Aktivitäten sowie eine starke Fokussierung auf zentrale Fragestellungen notwendig sind, um Ernährung als gesamtgesellschaftliches Thema in Mitteldeutschland zu bearbeiten. Unser Ziel bleibt: Die Gesundheit der Bevölkerung verbessern. Erste, eindrucksvolle Schritte haben wir in den zurückliegenden sechs Jahren geleistet. Doch um nachhaltige Effekte zu erzielen, braucht es eine Institutionalisierung. Das kostet Geld, ist aber auch ein Wettbewerbsvorteil für den Standort Mitteldeutschland und eine äußerst rentable Investition.
Die Fragen stellten David Leuenberger und Frank Kaltofen (Redaktion Mitteldeutsches Magazin).
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