Eine Collage zeigt das Buch-Cover von „Zu Mensch“ und das Platten-Cover des Grönemeyer-Albums „Mensch“.

Zwei Jahrzehnte „Mensch“

Rückblick nach 20 Jahren: Ein Buch rekonstruiert das Entstehen von Herbert Grönemeyers Erfolgsalbum Mensch. Eine Buchbesprechung von Frank Kaltofen. 

(Bildrechte: © Kunstmann Verlag / Grönland Records)

Wir schreiben das Jahr 2002. Das Euro-Bargeld löst die D-Mark ab; ein 27-jähriger Sven Hannawald gewinnt als erster Skispringer alle vier Einzelspringen der Vierschanzentournee und bei der Bundestagswahl kann Kanzler Gerhard Schröder seine rot-grüne Regierungsmehrheit knapp behaupten. 

Es ist aus heutiger Sicht eine andere Zeit, in die hinein Herbert Grönemeyer im Sommer 2002 sein elftes Studioalbum Mensch veröffentlicht, das elf Wochen lang Platz 1 der deutschen Album-Charts belegt. Mit mehr als drei Millionen verkauften Exemplaren ist die Platte bis heute eines der erfolgreichsten Musikalben Deutschlands.

Arezu Weitholz, Journalistin und Autorin, hat dem Album und seinem Entstehen ein Buch gewidmet, im Rückblick nach zwei Jahrzehnten. Seit den 90er Jahren ist sie eine enge Weggefährtin Grönemeyers, seit dem Mensch-Album zudem „verbale Anspielstation“ für seine Liedtexte.

„Es tut gleichmäßig weh“

Der Sänger ist damals 43 Jahre alt, lebt in London, als alleinerziehender Vater zweier Kinder. 1998 war sein letztes Album Bleibt alles anders erschienen und hatte nach wenigen Wochen Platin in Deutschland erreicht. Im November desselben Jahres starb seine Ehefrau Anna Henkel-Grönemeyer im Alter von 45 Jahren an den Folgen einer Brustkrebs-Erkrankung.

Das Arbeiten am Album Mensch, das Weitholz in ihrem Buch rekonstruiert, ist also auch ein Ver-Arbeiten. „Bei Mensch fing der Schleier an, sich zu lüften“, zitiert sie Grönemeyer. Welcher Schleier? „Der über allem lag.“

Die titelgebende Single erscheint einige Wochen vor dem Album, am 5. August 2002 – sie wird Grönemeyers bis dahin erfolgreichstes Lied, mit dem er erstmals die Spitze der deutschen Single-Charts erklimmt. „Trifft die Melodie einen Nerv, oder ist es der Text? Liegt es vielleicht an der Zeile ‚Weil er mitfühlt, weil er kämpft‘? Oder an ‚Weil er lacht, weil er lebt‘?“, versucht die Grönemeyer-Vertraute den Erfolg des Songs zu ergründen. 

„Als die Single auf Nummer 1 ging, war ich einen Tag lang euphorisch. Aber dann kam sofort der Einbruch. Ich merkte, ich bin noch nicht so weit.“

Herbert Grönemeyer in Zu Mensch von Arezu Weitholz

„Wir haben versucht, auf der Schussfahrt zu wenden“

Neben dem titelgebenden Song enthält die Platte auch andere starke, sehr persönliche Lieder: Mit Der Weg, das im November 2002 zweite Singleauskopplung erscheint, hat Grönemeyer vielleicht eines der schönsten, sicherlich aber eines der intensivsten Liebes- und Trauerlieder in der deutschsprachigen Pop-Geschichte geschrieben.

Dass der Song berührt, eine besondere Stille erzeugt – vor allem bei Live-Auftritten: Was macht Der Weg mit den Menschen im Publikum? Sie hören jemanden, „der sich gestattet, sich zu erinnern. Sodass auch sie sich erinnern dürfen“, formuliert Weitholz in ihrem Buch. „Es ist gut, dass dieses Lied keine Struktur hat, sondern Flächen, denn man braucht Platz, um zu trauern. Trauer braucht Raum.“

In diesem November des Jahres 2002: Der Weg bei Thomas Gottschalks „Wetten, dass..?“ im ZDF, mit einem vollen Live-Ensemble von Streichern. Grönemeyer, am Klavier, kämpft sichtlich und hörbar mit sich und dem Text. Am Ende Applaus, die gesamte Düsseldorfer Rheinhalle steht, Grönemeyer lächelt kurz, geht ab. Unter den Gästen auf Gottschalks Couch an diesem Abend: Karl Lagerfeld und die damalige Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf. Auch das: Bilder und Töne aus einer anderen Zeit.

„Wir wissen noch nicht mal, wer wir sind.“

So offenbart Grönemeyers Mensch rückblickend seinen Charakter als nicht nur persönliches Album, sondern eben auch als Dokument seiner Zeit. Besonders gilt das wohl für das Lied Neuland – ein deutschlandpolitisches Thema, das man eigentlich eher in den 90er Jahren, näher an der Wiedervereinigung verorten würde. Grönemeyer textet darin, damals von London aus: „Du steckst, Neuland, mitten in der Pubertät…“; „Ein‘ dich, Zweiland, deine Zukunft fing gestern an.“ Die Chronistin Weitholz zitiert ihn: „Deutschland ist grad mal wiedervereinigt. Das muss jetzt erst mal mit Inhalt gefüllt werden. Wir sind nicht wieder wer. Wir wissen noch nicht mal, wer wir sind."

Ist der Song deswegen gerade so passend, für jene Übergangszeit nach dem Ende der 1990er? Nach dem Wechsel der langen Kohl-Ära zu Rot-Grün, dieser zu Ende gehenden Honeymoon-Phase der Berliner Republik. Einer Zeit, als Thomas Gottschalk noch regelmäßig die versammelte Fernsehnation am Samstagabend begrüßt. Ein aus heutiger Sicht vermeintlich besseres Gestern; ein lineares Zeitalter nicht nur im TV, vor der Schnelligkeit, vor Social Media und Smartphones. „Die Jahre um 2000 waren die letzten einer seltsam unsichtbaren Epoche. Wir hatten Handys, aber keine Smartphones“, beschreibt es Weitholz: „Die Welt war langsamer, geheimnisvoller, kompakter – und man selbst war es vielleicht auch.“ 

Vielleicht hat Grönemeyer damals den Deutschen ohne es zu wollen genau das richtige Album zur richtigen Zeit gegeben. Und vielleicht ist das auch ein Grund für den immensen Erfolg dieser Platte. Vor dem neuen „Spaß-Nationalismus“ der Fußball-WM 2006. Ja, sein Mensch wirkt rückblickend wie ein Zeugnis einer „einfacheren“ Zeit, ohne allerdings nicht-ernst, nicht-emotional zu sein. Es gesteht dem Individuum zu, sich auf sich selbst und sein Gefühlsleben zu konzentrieren, statt auf das große Ganze, das Miteinander – und der Titel ist deswegen vielleicht umso passender, die Einzahl: „Mensch“.

Arezu Weitholz:
Zu Mensch 
Skizzen und Blicke zurück auf Herbert Grönemeyers Album „Mensch“
Kunstmann Verlag
208 Seiten

 

© 2024 Mitteldeutsches Magazin. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.