Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung von Vergangenheit findet längst auch im digitalen Raum statt. Zwei Experten der TU Dresden ordnen diese neuen Formen der Erinnerungsarbeit ein, für die unsere Redaktion konkrete Beispiele aus Mitteldeutschland zusammengetragen hat.
von Mathias Herrmann und Martin Reimer
Geschichte begegnet uns heute (nahezu) überall. Es scheint sogar angebracht, von einem „Geschichtsboom“, zumindest aber von einem wachsenden Interesse an der Vergangenheit und ihrer „breiten Gegenwart“ zu sprechen. Gerade im digitalen Raum des World Wide Web kann, in Anlehnung an den Bildungspsychologen Carlos Kölbl, ein vielschichtiges „Geschichtsverlangen“ beziehungsweise, mit dem Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen, eine permanente Suche nach und entsprechende Angebote von historischer Orientierung und Sinnbildung identifiziert werden.
Neue Potenziale, neue Herausforderungen
Der digitale Wandel der Geschichts- und Erinnerungskultur hat nicht nur den Kreis der „Geschichtsrezipient:innen“, sondern auch jenen der „Geschichtsproduzent:innen“ erweitert und beiden Gruppen neue Arenen für den Konsum, aber auch für die Erarbeitung, Bereitstellung und Verbreitung historischen Contents eröffnet.
Auf die Frage, wie diese Entwicklung zu bewerten ist, gibt es allerdings keine eindeutige Antwort. Optimistisch gestimmt, ließe sich ein Bild der „Demokratisierung“ von Geschichte und Erinnerung im digitalen Raum zeichnen. Grundsätzlich steht es – abgesehen von technischen Voraussetzungen und einem Mindestmaß digitaler Medienkompetenz – ja allen Menschen offen, sich „im Netz“ unabhängig vom Grad der eigenen historiografischen Expertise über einschlägige Themen zu äußern, ein Publikum zu finden und damit – gegebenenfalls – Wirkungsmacht zu erringen. Die Digitalisierung eröffnet zudem neue Möglichkeiten der Interaktion zwischen Nutzer:innen und Produzent:innen und der Partizipation an geschichtskulturellen und -wissenschaftlichen Projekten – etwa im weiten Feld der Citizen Science.
Kritisch gewendet erscheint die Digitalisierung dagegen als zumindest latente Bedrohung der (vermeintlichen) Autorität von Expert:innen der historischen Forschung und Bildung. Man liefe durch „Filterblasen“ und „Echokammern“, das Entstehen geschichts- und erinnerungskultureller Subkulturen Gefahr, dass wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und historisch triftige Deutungen im digitalen Raum schneller ins Leere laufen, als einem lieb sein kann. Zumindest aber stellt sich die Frage, wie es professionellen und semiprofessionellen Akteur:innen der Geschichts- und Erinnerungskultur, die sich einer bislang unbekannten Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Publikums ausgesetzt sehen, gelingen kann, auch im digitalen Zeitalter eine relevante Instanz bzw. ein kritisches Korrektiv des sich diversifizierenden und fragmentierenden öffentlichen Diskurses zu bleiben.
Um migrantische Lebensgeschichten aus der DDR geht es in der Web-App OSSI-AUSLÄNDER: Sieben Zeitzeugen, die als junge Menschen aus dem Ausland in die DDR kamen und die Transformationszeit 1989/90 erlebten, werden hier sicht- und hörbar gemacht. Công Tiến, David, László, Mahmoud, Piedoso, Taha und Wiktoria machen in ihren eigenen Worten und mit eigenen Fotos ihre persönlichen Geschichten interaktiv erfahrbar. Das Projekt wurde vom Multikulturellen Zentrum e.V. in Dessau entwickelt und dort 2021/2022 umgesetzt. Im Jahr 2023 übernahm das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V. (LAMSA) die Trägerschaft.
Die Arolsen Archives – Internationales Zentrum über NS-Verfolgung haben mit #EVERYNAMECOUNTS eine Initiative geschaffen, um Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus ein digitales Denkmal zu errichten. Dafür gilt es, Daten von bereits gescannten historischen Dokumenten digital zu erfassen – eine gigantische Fleißaufgabe bei rund 30 Millionen Originalen im Archiv. Tausende von Freiwilligen helfen darum weltweit der Initiative. Die Freiwilligen-Agentur Halle (Saale) lädt beispielsweise zu entsprechenden Online-Mitmachaktionen ein. Mitmachen ist aber von überall aus möglich, wo es Internet gibt.
Die interaktive Graphic Novel WIR LEBEN HIER! zeigt das Leben junger Menschen in der DDR, das durch die Entscheidungen der Nutzer einen individuellen Verlauf nimmt. Das browserbasierte Spiel richtet sich besonders an junge Zielgruppen und bietet einen spielerisch-unterhaltenden Einstieg in die DDR-Geschichte basierend auf Zeitzeugenberichten. WIR LEBEN HIER! wurde in einer Kooperation der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar (EJBW), der Stiftung Ettersberg und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen mit dem Anbieter für digitale Ausstellungen musealis GmbH aus Weimar entwickelt.
Friedhöfe erzählen eine lange Geschichte – auch über jüdisches Leben in Thüringen. Da die Restaurierung von Grabmalen nicht unbegrenzt möglich und zudem kostenintensiv ist, werden hier innovative Ansätze zur Dokumentation, aber auch neue Formate der lokalen Erinnerungsarbeit gesucht. Das Projekt DIGITALISIERUNG DER JÜDISCHEN FRIEDHÖFE IM LANDKREIS NORDHAUSEN an der Hochschule Nordhausen dokumentiert unter anderem die jüdischen Friedhöfe in Nordhausen, Bleicherode und Ellrich digital: Grabmale werden in 3D erfasst, deren Inschriften transkribiert und übersetzt sowie als Geschichte jüdischen Lebens in Nordthüringen dauerhaft für die Nachwelt erhalten.
Seit Kurzem sind vier virtuelle 360°-RUNDGÄNGE ZUR GESCHICHTE DES RÜSTUNGSKONZERNS HUGO SCHNEIDER AG (HASAG) während des Nationalsozialismus online nutzbar. Ausgehend vom noch erhaltenen ehemaligen „Gefolgschaftshaus“ der HASAG in Taucha widmen sie sich u.a. der Geschichte der Rüstungswerke, dem KZ-Außenlager sowie der Zwangsarbeit. Die aktuelle Unsichtbarkeit dieser Geschichte am Ort wird mit virtuellen Ausstellungstafeln, Infotexten sowie Fotos und Filmaufnahmen überwunden. Erarbeitet wurden die Rundgänge von Studierenden am Historischen Seminar der Uni Leipzig in Kooperation mit der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig und dem Verein Solidarische Alternativen für Taucha.
Als interaktive Visual Novel verbindet HERBST 89 – AUF DEN STRASSEN VON LEIPZIG Aspekte von Comic, Ausstellung und Computerspiel. Das Projekt des Deutschen Historischen Museums und des auf Serious Games spezialisierten Entwicklungsstudios Playing History lässt die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig – einen Schlüsselmoment der „Friedlichen Revolution“ – interaktiv nacherleben. Die Spielenden schlüpfen in die Rollen von sieben möglichen Figuren, darunter Kurt Masur und Egon Krenz, um aus unterschiedlichen Perspektiven jenen 9. Oktober in Leipzig zu durchlaufen, konkrete Entscheidungen zu treffen und den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen.
Inzwischen leisten die meisten Forschungseinrichtungen und Gedächtnisinstitutionen sowie zahlreiche Multiplikator:innen der historischen Bildung mit verschiedenen, oft innovativen Konzepten und Projekten einen entscheidenden Beitrag zur öffentlichen Geschichts- und Erinnerungskultur im digitalen Raum – und darüber hinaus. Dabei zeigt sich, dass etwa die sozialen Medien geeignet sind, die Reichweite professioneller Akteure der Geschichts- und Erinnerungskultur auszubauen und ihnen auf diesem Weg ein neues Publikum zu erschließen. Positiv stimmen daher auch die auf den vorangegangenen Seiten versammelten Beispiele, die spannende Perspektiven im digitalen Raum aufzeigen.
Relevanz auch für die schulische Bildung
Abschließend sei ein kurzer Blick auf schulische Bildungskontexte geworfen, denn auch hier sind viele Chancen, aber auch Herausforderungen der Digitalisierung auszumachen. Der überwiegende Anteil der Schülerinnen und Schüler nutzt in der Freizeit oder auch in Vorbereitung auf Prüfungen jeglicher Art unterschiedlichste digitale Plattformen, um an Informationen zu gelangen oder sich auszutauschen. Bereits hier zeigen sich die oben angesprochenen Herausforderungen: So geben im Rahmen der JIM-Studie von 2023 immerhin 58 Prozent der befragten Jugendlichen an, im Monat vor der Befragung mit Fake-News im Internet konfrontiert worden zu sein, 42 Prozent sogar mit extremistischen Inhalten. Auf der anderen Seite ist vor allem die Nutzung des Internets im schulischen Kontext mittlerweile durchaus elementarer Bestandteil von Lehr-Lern-Prozessen.
Forschung, Lehre, Bildung, Erinnerung und Kultur stehen im digitalen Zeitalter auch in Zukunft vor enormen Herausforderungen, es bieten sich aber auch unendliche Chancen und Möglichkeiten. Auf keinen Fall dürfen diese Entwicklungen jedoch ignoriert werden, denn auch die KI ist mittlerweile fester Bestandteil unseres Lebens geworden.
Dr. Mathias Herrmann & Martin Reimer sind beide wissenschaftliche Mitarbeiter an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der TU Dresden. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem populäre und digitale Medien der Geschichts- und Erinnerungskultur in der historischen Bildung.
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